Der Glückskäfer



Sie hatte ihr Kind verloren. Schon zum dritten Mal. Auch diesmal war es wieder im vierten Monat paßiert. Dabei hatte sie sich wirklich geschont. Sogar ihre Arbeitszeit hatte sie reduziert und immer versucht, wirklich alles langsamer angehen zu laßen. Aber es war dennoch paßiert.

Sie blinzelt nach Osten an der großen Tanne vorbei. Sie atmet tief durch, streckt ihren Körper, reibt das letzte Sandkorn aus dem Auge. Gleich wird die Morgensonne über den Hügel kommen. Ihr Blick schweift über die Berge in der Ferne. Am anderen Ende der Hütte schimpft ein Blue Bird. Ansonsten ist kein Laut zu hören. Nebelfetzen hängen über dem See. Die Luft ist frisch. Vom Dach tropft der Tau.

Robert hatte ihr zärtlich über die Wange gestrichen, als sie aus der Narkose erwacht war. "Unser Kind ..." hatte Robert zu sprechen begonnen. Weiter war er nicht gekommen. Dann waren ihm die Tränen über die Wangen gelaufen. Eine nach der anderen. Sie hatte ihn angeschaut wie man einen Fremden anschaut. Sie hatte nicht geweint. Sie hatte nicht gesprochen. Kein Wort. "Du bist eine starke Frau" hatte ihre Mutter immer gesagt. Und auch Robert hatte das gesagt. Immer wieder. Und nun hatte sie sein Kind verloren. Schon zum dritten Mal.

Der See liegt still vor ihr. Die Sonne kommt über den Hügelkamm. Vertreibt letzte Nebelfetzen, wirft Herbstfarben auf die Ahornblätter. Der Sommer ist fast vorbei. Zwei Loons flattern nervös auf und zerschneiden den morgendlichen Frieden. Ein Zug Kanadagänse zieht über den See. Das Waßer reflektiert ihre heiseren Schreie. Sie formieren sich für den Zug nach Süden. Sehr bald werden sie wegfliegen. Dann kehrt wieder Ruhe ein. Sie liebt diese Stille, die Einsamkeit, die Unberührtheit. Und wieder denkt sie, daß der Sommer fast vorüber ist.

Sie war schon lange nicht mehr dieselbe gewesen. Die Geräusche der Stadt hatten sie taub gemacht. Taub für das Zirpen der Grillen, das Rauschen der Bäume und den Gesang der Vögel. Die wechselnden Farben der Computermonitore hatten ihre Augen müde gemacht. Von den spiegelnden Faßaden der Hochhäuser war sie blind geworden. Blind für die Schönheit der Blüten und die wechselnden Formen der Wellen, die ans Ufer schlugen.

Eines Tages war sie aufgewacht und hatte nicht mehr gewußt, ob es Montag oder Mittwoch war. Sie hatte sich in Schweigen geflüchtet. Aber das Schweigen ist kein guter Zufluchtsort.

Einmal hatte sie Robert angelächelt. Er hatte zurück gelächelt. Aber das hatte sie nur noch einsamer gemacht. Sie hatte das Kind verloren. Schon zum dritten Mal. Auf das Glück war kein Verlaß mehr.

Sie geht zum Brunnen, schöpft Waßer für den Tee. Sonnenstrahlen bemalen die unteren äste der großen Tanne mit Grün. Im Osten geht eine Wolke weg. Der Tag beginnt. Heute schlägt sie zwei Eier in die Pfanne und legt vier Scheiben Speck. Dazu. Ein richtiges kanadisches Frühstück, wie es ihr Vater immer gemacht hatte, als sie mit ihm hierher zum Fischen gekommen war. Heute Morgen fühlt sie sich beßer. Das wird der erste wirklich gute Tag, denkt sie und nimmt das duftende Brot aus dem Backofen.

Es war richtig gewesen, hierher zu kommen. Es war eine Wohltat für sie hier draußen in der Natur, ohne die Hektik des Berufsalltags und fernab aller technischen Kommunikationsmöglichkeiten. Nur das Satellitentelefon hatte sie mitnehmen müßen. Ohne dieses Gerät wollte Robert sie partout nicht gehen laßen. Sie hatte am Schluß zugestimmt mit der ausdrücklichen Einschränkung, das Ding wirklich nur für den absoluten Notfall zu benutzen.

Die alte Blockhütte stand mitten in der Wildnis, einhundertfünfzig Kilometer von Kenora entfernt, der nächsten größeren Siedlung am Lake of the Woods, ein See mit vielen großen und noch mehr kleinen Armen, in der Mitte von Kanada. Hier hatte sie mit ihrem Vater viel Zeit verbracht. Und so vieles von ihm gelernt. Sie konnte einen Baum fällen. Sie wußte die Spuren im Schnee zu lesen. Das doppelläufige Gewehr konnte sie bedienen wie andere Frauen das Küchenmeßer. Des Nachts konnte sie sich an den Sternen orientieren. Tagsüber wußte sie den Himmel zu deuten und die Geräusche der Wildnis.

All das hat sie nicht verlernt. Es war nur verschüttet gegangen. Die letzten Tage hier draußen hatten ihr gut getan. Ihre Sinne sind wieder geschärft. Ihr Herz schlägt ruhig, als sie ins Waßer steigt.

Der See ist kalt. Sie bekommt eine Gänsehaut, aber in ihrem Inneren ist es warm. Ihre Gedanken sind warm. Sie kreisen um Robert, der sie so sehr liebt. Sie beginnt zu schwimmen. Einmal ans andere Ufer und wieder zurück. Das Schwimmen am Morgen ist ein fester Bestandteil ihres Trainingsprogramms. Jeden Tag das Gleiche. Nur beim Fahrradfahren und Laufen wechselt sie ab, je nach Wochentag. Sie ist eine gute Triathletin. Sie liebt diesen Sport. Er hilft ihr. Und er verbindet sie mit Robert.

Geschmeidig gleitet der sehnige, durchtrainierte Körper durchs Waßer. Es geht kein Wind. Der See liegt ruhig und vollkommen glatt vor ihr. Mit dem Kopf schiebt sie eine leichte Bugwelle vor sich her, die jedes Mal ein wenig anschwillt, wenn sie zum Atmen auftaucht. Hinter ihr zieht sich eine schmale Spur von leicht gekräuseltem Waßer, aus dem kleine Luftbläschen nach oben steigen. Eine sanft geschwungene Linie, die gegen den Horizont läuft, um irgendwo in der Mitte des Sees, wie von Geisterhand verwischt, zu verschwinden.

Am anderen Ufer macht sie eine kleine Verschnaufpause. Sie fühlt sich wohl. Sie denkt, daß dies das zurückkehrende Glück sein könnte. Aber noch traut sie der Sache nicht recht. Sie traut ihren Gefühlen nicht.

Mit einem Hechtsprung beginnt sie den Rückweg. Taucht ein paar Meter, kommt pustend und laut lachend wieder hoch. Es ist, als wäre Robert neben ihr. Dann beginnt sie, in gleichmäßigen Zügen zu schwimmen. So wie Langstreckenschwimmer es tun. Diesmal im Bruststil.

Da die Sonne inzwischen links vor ihr steht, schließt sie auch beim Luftholen meist die Augen, um nicht geblendet zu werden. So auch jetzt, als sie plötzlich etwas auf ihrer Nase spürt. Mit einer reflexartigen Bewegung wischt sie es mit dem Handrücken weg.

Das ES landet direkt vor ihr und zappelt wie wild auf der Waßeroberfläche. Es ist ein kleiner Käfer, glänzend schwarz mit zwei großen roten Punkten auf jeder Seite. Ein kanadischer Marienkäfer, den es nur in ihrer neuen Heimat Kanada gibt.

Wie oft hatte ihre deutsche Oma vom Marienkäferchen erzählt, dem Glücksbringer, der die Menschen fröhlich macht und friedlich stimmt. In ihrem alten abgegriffenen Kinderbuch ist ein Bild vom deutschen Marienkäfer. Bei ihm sind die Farben komplementär zum kanadischen - knalliges Rot mit sieben kleinen schwarzen Punkten.

Sie ist sich nicht sicher, ob die kanadische Art von Marienkäfern auch zu den Glücksbringern gehört. Aber das ist jetzt egal. Es ist ganz offensichtlich, daß das Tierchen nicht fliegen kann. Also wird sie es so lange mitnehmen, bis es davon fliegt. Sie wird Lebensretter spielen. Sie muß schmunzeln.

Vorsichtig schiebt sie die rechte Hand unter das hilflos zappelnde Tierchen und hebt es aus dem Waßer. Daß Käferchen läuft auf dem Handrücken ein paar Mal hin und her, aber fliegen tut es nicht. Still verharrt es auf ihrer Haut und rührt sich nicht mehr. Vermutlich sind die Flügel einfach zu naß zum Fliegen. Gut denkt sie. Ich muß zurück, aber du darfst "mitfahren". Du bist mein Paßagier. Ich bin dein Fährmann.

Auf dem restlichen Weg zurück ähnelt ihre Art zu schwimmen doch sehr dem Stil der Damen, die sie früher manchmal im Hotelpool beobachtet hatte. In verkrampfter Seitenlage, weil sie ihre hochgesteckte Frisur nicht naß machen wollten, hatten sich diese Frauen von einem Beckenrand zum anderen bewegt.

Klar, daß der Rückweg dieses Mal etwas länger dauert. Ebenso klar, daß diese zusätzliche Herausforderung kein Problem für sie darstellt. Von der doch sehr skurrilen Haltung über mehr als dreißig Minuten hinweg ist der rechte Arm etwas müder als sonst. So lange hat der Rückweg gedauert. Und genau so lange ist das Käferchen sitzen geblieben.

Sie steigt aus dem Waßer, geht zu dem klobigen Tisch vor dem Haus und setzt das Käferchen direkt neben die leere Teetaße auf das raue Eichenholz. Dann nimmt sie sich ihr großes Handtuch, daß sie sich vorher parat gelegt hat, kuschelt sich in das trockene Frottee und läßt sich in den Stuhl fallen.

Fasziniert starrt sie auf die beiden roten Punkte. Du bringst mir Glück, Käferchen. Ist doch klar, daß auch kanadische Marienkäfer Glück bringen. Alle Marienkäfer bringen Glück. Weltweit. Das muß so sein.

Das Marienkäferchen bewegt sich. Es klappt die Flügel auf und zu. Die Sonne steht inzwischen hoch am Himmel und wärmt alles, auch das kleine Tierchen auf dem Tisch. Die schwarzen Flügel glänzen. Die roten Punkte leuchten. Noch einmal macht der Marienkäfer seine Flugversuche, schwirrt mit den Flügeln, als möchte er die Strahlen der Sonne so richtig genießen. Dann fliegt er davon.

Sie geht ins Haus. Tief im Koffer ist das Satellitentelefon deponiert. Sie nimmt es heraus. Nein, ein Notfall ist das bestimmt nicht, denkt sie noch. Aber ein ganz besonderer Fall. Die Zeit für eine klare Entscheidung.

Entschloßen und beschwingt kehrt sie auf die Terraße zurück und läßt sich in den Stuhl fallen. Sie wählt die Nummer von Robert. Es dauert einige Sekunden.

"Hallo?" tönt es leicht verzerrt durch die Leitung. Sie sagt "Hallo Robert, ich komme morgen zurück." "Claudia, bist du es?" Claudia wiederholt "Robert, morgen komme ich zurück zu dir."

Nach einer langen Pause, in der nur das Krächzen der Atmosphäre zu hören ist, hört sie Robert sagen: "Claudia, ich freue mich so sehr auf dich." Und wieder ist nur das Rauschen aus dem Weltall in der Leitung.

Dann sagt Claudia den Satz, den sie schon so lange nicht mehr gesagt hat; "Robert, ich liebe dich." Auf eine Antwort wartet sie nicht. Sie drückt den OFF-Button. Sie geht zurück ins Haus und packt ihren Koffer.

bitte



wenn wir
das unsichtbare
sehen

wenn uns
das undenkbare
begegnet

dann stirb vor mir
nur eine kleine gegenwart
früher

ich will nicht
dass du das bett neben dir
leer siehst



vom reiz eines januartages



laub von gestern
legt letzte worte
auf blendendes weiß

wind streichelt
das welkende gras
tröstend

vergebliche worte
verkümmern
zu nackten halmen

das herz
taktet stille
hinter ihren schatten

traurig verblassen
träume von
ewiger jugend

unterm schnee
ein hoffen auf
wachsen

noch einmal
öffnet die sonne
den morgen