Die zwei Chefs



Sie hieß Simaida Keller. Gekannt hatte ich sie schon lange. Wer sie wirklich war, erfuhr ich erst später. Dienstlich hatte ich nichts mit ihr zu tun. Außer wenn sie zaghaft an die Tür klopfte, weil sie mein Zimmer putzen wollte. Die Zeit, die sie zum Saubermachen brauchte, verschwand ich meist ins Labor oder in einen Hörsaal, die nachmittags oft leer waren. Zwischen ihr und mir waren noch ein paar Leiter (und Halbleiter), die ihr Anordnungen gaben. Wegen der Lautstärke insbesondere des einen Leiters (oder Halbleiters) habe ich das manchmal mitbekommen. Gedacht habe ich mir nichts dabei. Ich grüßte sie freundlich. Und sie mich. Aber ihr Blick kam mir immer so unterwürfig vor. Hierarchie schien ihr wichtig. All dem schenkte ich keine Beachtung.

Bis zu diesem grauen Novembertag, als ich sie kennen lernte. Ich war auf der Suche nach meinen Unterlagen, die ich im Hörsaal IV nach der letzten Mathematik-Vorlesung wohl vergeßen hatte. Als ich in Eile die Tür aufriß -mein Zug fuhr in zwanzig Minuten- stand sie an der Tafel und war gerade dabei, die Kreide in die Ablage zurückzulegen. Ich starrte erst an die Tafel, dann auf sie, dann wieder zurück an die Tafel."Ich glaube, Ihnen ist da ein kleiner Fehler unterlaufen", sagte sie leise und ein spitzbübisches Schmunzeln huschte über ihr Gesicht."Dieses Integral hätte nicht zum richtigen Ergebnis geführt. Ich habe es geändert."

Und wieder war da dieses Lächeln. Ein Lächeln, das ich noch nie bei ihr gesehen hatte. Noch immer stand ich im Türrahmen und begriff nicht. In der Vorlesung am Morgen hatte mich das Pausenzeichen überrascht. Schnell hatte ich noch einen Lösungsansatz an die Tafel geklatscht und eine Hausaufgabe für die Studenten daraus gemacht. Und jetzt stand alles richtig an der Tafel. Der kleine Fehler in meinem Lösungsansatz war verbeßert und ein kurzer und eleganter Lösungsweg war direkt darunter skizziert.

Bei meiner dritten Einladung zu einer Taße Kaffee sagte sie endlich zu. Das Gespräch begann zögerlich, wurde dann aber sehr dicht. Sie war Deutsche, in Kasachstan geboren und aufgewachsen, mein Jahrgang - genauer zwanzig Tage jünger als ich. Ihr Mathematikexamen in Moskau hatte sie mit Auszeichnung gemacht. War dann zurück nach Kasachstan gegangen und Lehrerin geworden. 1994 war sie mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Um die Anerkennung ihrer Diplome hatte sie lange gekämpft. Es war vergeblich gewesen. Heute ist sie Putzfrau, pardon, Raumpflegerin in unserem Betrieb.

Nach diesem Tag lud ich sie ab und an zu einer Taße Kaffee ein. Wir sprachen über Deutschland und über Kasachstan, über das Reisen und über die Mathematik. Weil ich ihr Lächeln mochte, versuchte ich manchmal sie zu necken. Meist wurde ihr Blick dann aber noch strenger.

Vor einem Jahr habe ich sie in der Stadt getroffen. Wie krank sie da schon war, habe ich nicht bemerkt. Ganz offensichtlich freute auch sie sich über diese zufällige Begegnung. Begeistert erzählte ich ihr von meiner letzten Reise durch Mittelamerika. Sie hörte aufmerksam zu. Auf ihre Frage, ob denn das Reisen in diesen Ländern nicht gefährlich sei und ob ich denn nicht manchmal Angst hätte, antwortete ich ihr mit einem schelmischen Lächeln:"Nein. ich habe nämlich zwei Chefs und die paßen gut auf mich auf." Das Fragezeichen in ihrem Gesicht löste sich in ein helles, herzliches Lachen, als sie mich sagen hörte: "Meine Frau ist der eine Chef. Der andere ist der da oben." Mit der Hand wies ich dabei in den blauen Sommerhimmel über uns. In konspirativer Manier fügte ich dann noch hinzu:"Meine zwei Chefs sind manchmal ganz schön nervig. Aber ich weiß mich zu wehren. Ich kenne da ein paar Tricks."

Noch immer war ihr Lächeln freundlich, aber ihre Augen wurden sehr ernst, als sie mir entgegnete:"Den Chef da oben kann man nicht austricksen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, der ist ein guter Chef." Noch einmal schenkte sie mir ihr Lächeln. Dann war sie in der Menge verschwunden.

Ich habe sie nie wieder gesehen. Aber diese Geschichte fiel mir ein, als ich heute auf ihrer Beerdigung war.

Die Granny



Wer von euch weiß noch, was eine Zigarettenspitze ist? Mich als Nichtraucher hat so ein Ding immer fasziniert. Aber ich habe Jahrzehnte lang keine mehr gesehen.

Sie sitzt vor einer italienischen Espreßo Bar in Tucson, Arizona auf einem Barhocker. Neben ihr lehnt ein Krückstock am Tresen. Ihr Kleid ist beige, oben in einer Art Halskrause geschloßen und reicht bis zu den Knöcheln. Ihre schmalen Füße stecken in schlichten, flachen, weißen Schuhen und wippen nervös auf und ab. Der überdimensionale, ebenfalls weiße Hut verleiht ihr eine exotische Aura und läßt das Gesicht im Halbschatten. Dennoch denke ich sofort an Greta Garbo. Ihr Alter schätze ich auf knapp über sechzig.

Ich muß zu lange gestarrt haben. Denn ihr Blick streift mich kurz. Dann dreht sie den Kopf zur Seite und zündet sich eine Zigarette an. Wie sie das tut, feßelt mich derart, daß ich sie wieder zu fixieren beginne. Da mein kleiner Tisch dicht neben ihrem steht, kann ich die Zigarettenspitze gut erkennen. Sie ist etwa zwölf Zentimeter lang, aus Perlmutt mit einem Mundstück aus Holz. Bedächtig befestigt sie die Zigarette. Dann dreht sie sich abrupt zu mir um und sagt: "Hast du Feuer, junger Mann?"

Ich bin derart überrascht, daß ich froh bin, auf einem richtigen Stuhl zu sitzen. Hat sie junger Mann gesagt?

Nachdem ich eine Verneinung gestammelt habe, kam ein Kommentar über die Männer von heute, an den ich mich nicht mehr erinnere.

Wir kommen ins Gespräch. Eine gebildete Frau mit profunden Kenntnißen, insbesondere der jüngeren Geschichte, stelle ich für mich fest.

Rußische Abstammung. Mit den Eltern über Paris nach Amerika eingewandert.

Es macht Spaß, mit ihr zu reden. Sie muß etwas älter als sechzig sein, denke ich noch, als eine Frau auf der Bildfläche erscheint. Die junge Dame schlendert auf den Cadillac zu, der direkt vor dem Cafe steht, und wirft ihre Tasche auf die Rücksitzbank. Das Auto ist mir schon aufgefallen. ältere Cadillacs habe ich schon gesehen, aber keinen mit einer so riesigen Heckfloße.

Meine Gesprächspartnerin sieht meinen Blick und stellt technisch nüchtern fest: "Cadillac Biarritz, die Cabrioversion des Eldorado, Modelljahr 1959."

Mit einem verschmitzten Lächeln fügt sie hinzu: "Elvis hatte auch so ein Auto"

"Den müßten sie doch kennen, junger Mann."

Ich nicke heftig. Sie hat wieder junger Mann gesagt.

Dann greift sie zu der Krücke und begibt sich Richtung Auto. Meine Hilfe lehnt sie dankend ab. Etwas traurig darüber, daß das Gespräch zu Ende ist, und im Unklaren, wer diese junge Dame ist, sage ich: "Werden sie abgeholt?"

"Ich - abgeholt?" und ihr schelmisches Lächeln macht sie noch jünger. Und weiter: "Das junge Ding da - dabei zeigt sie mit der Krücke auf das Mädchen - ist meine Urenkelin. Ich mache mittwochs den Fahrdienst für sie. Und während sie in der Vorlesung sitzt, trinke ich einen Kaffee auf ihre Kosten. Ist doch recht und billig, stimmt's Cindy?"

Bei diesen Worten wirft sie die Krücke auf den Rücksitz des Cabrios und gleitet elegant hinter das Steuer.

Die junge Frau läßt sich auf den Beifahrersitz fallen und wendet sich mit einem verschwörerischen Lächeln mir zu: "Wißen sie, seit meine Granny im letzten Monat fünfundachtzig geworden ist, wird sie immer knauseriger."

Das Lachen der beiden Frauen übertönt das leise Brummen der abfahrenden Limousine.

Apropos Bildung



Ich begegnete ihm vor dem Fahrstuhl. Er ist mein Nachbar (ich nenne ihn Karl Hammer). Einer von vielen in diesem großen Block. Er ist sechsundachtzig. Das habe ich ihn, forsch wie ich bin, ganz direkt gefragt. Immerhin, die Hälfte der Leute kenne ich jetzt, wo ich im fünften Jahr hier wohne. Ist das gut? Oder muß ich doch mehr aus mir herausgehen? Soll ich gezielt die Anderen ansprechen, die ich noch nicht kenne? Damit wir uns recht verstehen - sie grüßen mich, die Anderen. Manche nicken nur mit dem Kopf, andere lächeln sogar, je nach Temperament und Grad der Eile.

Mein Nachbar hatte einen Schmutzfleck auf seinem ansonsten blütenweißen Hemd. Er entschuldigte sich bei mir für diesen Anblick. Aber das sei im Keller soeben paßiert. Beim Reparieren seines Fahrrades. "Und ich habe ein Problem mit meinem Computer. Der wird immer langsamer." sagte ich. Einfach, um auch etwas zu sagen. Nicht weil ich mit ihm über Computer reden wollte. Seine Antwort lies mich staunen. Ich solle mal das Programm XY aus dem Netz laden und damit die Registry reparieren. Das würde garantiert helfen.

Und plötzlich waren wir bei Thomas More und Jonathan Swift. Dostojewski mochte er mehr als Tolstoi. Als der Fahrstuhl das dritte Mal hoch und runter gefahren war, sprachen wir gerade über "Die ärzte". Auf meinen fragenden Blick hin klärte er mich auf. Damit wolle er sich bei seinem Enkel einschleimen. Er sagte tatsächlich "einschleimen" und über sein faltiges Gesicht huschte ein spitzbübisches Grinsen. Er selbst höre gerade "Celibidaches Einspielungen der Sinfonien von Bruckner". Das sei mehr was für ihn.

Irgendwie erwähnte ich David Graux. Daß er mein Lieblingsmaler sei. überrascht und ein wenig verschämt gestand er, daß ein Bild von David Graux über seinem Ehebett hängen würde. Seine Frau hätte es nie so recht gemocht. Aber er würde es öfter denn je anschauen. Mein Blick fiel auf die Uhr. Mehr aus alter Gewohnheit. Ich war wirklich nicht in Eile. Aber er hatte es gesehen. Er müße jetzt gehen, sein Hemd waschen. Bügeln haße er.

Er verabschiedete sich mit den Worten: Meine Empfehlung an Ihre verehrte Gattin. So hatte er das in seiner Jugend gelernt. So hatte man das damals gesagt.

Als ich die Grüße meiner Frau ausrichtete, sagte sie: "Ich glaube, daß ist der Mann, dem letzten Monat die Frau gestorben ist." "Kennst du ihn?", fragte ich. "Nein, aber ich habe eine Todesanzeige von einer Frau Irene Hammer gelesen.", antwortete meine Frau.

Wir beschloßen, Karl Hammer einzuladen. "Aber vorher sollten wir noch was für unsere Bildung tun.", scherzte ich.